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Kathmandu, 18.8.82

Ihr Lieben in Deutschland!

Da ich so vielen einen Brief versprochen habe, werde ich lieber einen langen Brief schreiben, der an alle geht, als viele kurze, in denen weniger steht.

Das Nepalunternehmen begann am 21.7.82 und stand von Anfang an unter einem guten Stern. Liebe Bekannte verabschiedeten mich am Flughafen, In Hamburg nieselte es. Aber schon wenige Minuten nach dem Start um 8.25 Uhr schien für mich die Sonne über den Wolken. Der Flug nach Amsterdam dauerte nur eine knappe Stunde. Um 13.10 Uhr hoben wir ab nach Delhi. Wieder hatte ich Glück. Saß an einem Notausgang, hatte keinen Vordermann und konnte gut mein reichliches Handgepäck und meine Beine unterbringen, Dinge, die mir besonders wichtig waren, wie ca. 100 Musikcassetten, hatte ich nämlich im Handgepäck, Die Wolken, das Licht, später das glitzernde Mittelmeer, den Sonnenuntergang und am nächsten Tag den Sonnenaufgang habe ich auf keiner meiner früheren Reisen so schön erlebt. Hoffentlich sind einige Fotos gut gelungen! Wegen eines Maschinenschadens dauerte die Zwischenlandung in Karachi 2 ½ Stunden länger als geplant. Um 7.15 Uhr Ortszeit landeten wir in Delhi. Die Zeitverschiebung beträgt etwa 4 ½ Stunden. In Delhi konnte ich mein aufgegebenes Fluggepäck identifizieren und damit sicherstellen, daß es nach Kathmandu weitergeleitet wurde. Auch den Platz in dem gebuchten Flug nach Kathmandu erhielt ich. Um 8,15 Uhr ging's in Delhi los, und um 9.40 Uhr war ich am Ziel. Daß alles so geklappt hat, ist keine Selbstverständlichkeit, und ich muß sehr froh sein.

In Kathmandu dauerte es 1 ½ Stunden bis ich mit dem Gepäck durch den Zoll war. Wieder hatte ich Glück. Während des Wartens fragten ein Engländer und sein kleiner Sohn mich, ob ich auch nach Thapathali müßte und ob wir gemeinsam ein Taxi nehmen wollten. Natürlich wollte ich; denn wir hatten das gleiche Ziel. Es stellte sich heraus, daß der Herr einige Jahre in Nordindien und Nepal als Missionar gearbeitet hatte, und auf Nepali mit dem Taxifahrer verhandeln konnte.

Als wir aus dem Flughafengebäude kamen, wurde ich von einer Dame von der U.M.N. (United Mission to Nepal) begrüßt. Es handelte sich um die Gattin des Architekten des neuen Krankenhauses in Patan (ca. 5 km südlich von Kathmandu), das im November bezogen werden soll, und an dem ich vielleicht als Gynäkologin arbeiten werde. Sie lud mich gleich für den nächsten Abend zum Abendessen ein.

Zunächst aber ging's zum Gästehaus der U.M.N.. Dort wurde ich von den Hauseltern, die ich von meinem Besuch im Oktober 1981 her schon kannte, herzlich begrüßt. Daß mir der Zementfußboden meines Zimmers recht grau, die Glühbirne an der Decke etwas trostlos und das kalte Wasser der Dusche besonders kalt vorkamen, muß an meiner Übermüdung gelegen haben. Inzwischen genieße ich den Blick aus dem Fenster auf die Blüten des Gartens, die Berge des Kathmandutales und den strahlend blauen Himmel mit seinen Kumuluswolken und fühle mich in unserem Gästehaus wie in einem 5-Sterne-Hotel. Es ist besser als ein 5-Sterne-Hotel; wir werden hier nämlich nicht nur versorgt, sondern umsorgt. Die U.M.N. hat 3 Gästehäuser, in denen die Neuankömmlinge für das Language and Orientation Programme (LOP) und Mitarbeiter von außerhalb gelegenen U.M.N.-Projekten untergebracht werden. In unserem Haus wohnen ein deutscher Augenarzt mit Frau und zwei Kindern, ein Ingenieur mit Frau und einer Tochter aus Norwegen, ein Forstwirtschaftler aus Schottland, ein Lehrer mit Frau aus Schottland und ich als Studenten des LOP und eine wechselnde Zahl von 2-4 Gästen.

Ich bin als erste eingetroffen und hatte so Gelegenheit, mich auszuruhen vom Packen und von der Reise, hatte Zeit zu Basarbummel und Fahrradkauf und zur Besichtigung des neuen Hospitals in Patan.

Hier ist augenblicklich Monsunzeit. Für Kathmandu bedeutet das Temperaturen tagsüber um 30°C, nachts um 22°C. In den Räumen herrschen Temperaturen um 26°C. Es ist schwül. Das Klima erinnert stark an Hamburg bei 30°C. Dort ist es bei diesen Temperaturen ja auch oft drückend, während man solche Wärme in Spanien gut ertragen kann. Wer aus der nordindischen Ebene oder aus Bangladesh zu uns kommt, empfindet Kathmandu allerdings als Sommerfrische. Nachts haben wir oft lang anhaltende Regengüsse. Zeitweise donnert und blitzt es. Am nächsten Morgen ist dann wieder strahlender Sonnenschein u. blauer Himmel mit Kumuluswolken, Tagsüber gibt es höchstens Schauer. Man sagt aber, daß wir in diesem Jahr viel zu wenig Regen gehabt hätten. Die schneebedeckten Berge des Himalaja sind um diese Zeit von Wolken umhüllt. Nur morgens zwischen 5.00 und 6.00 Uhr kann man sie manchmal sehen. Abends wird es zwischen 19.00 und 19.30 Uhr ziemlich schnell dunkel. Um 21.00 Uhr schläft die Stadt. Ein Taxi ist dann kaum noch zu finden. Das bedeutet nicht, daß es dann still ist. Streunende Hunde heulen und bellen oft Stunden lang. Vögel und anderes Getier veranstalten ebenfalls oft recht lautes Konzert.

Ein Erlebnis besonderer Art war die Abfertigung des unbegleiteten Fluggepäcks. Die offizielle Öffnungszeit der Zollstelle ist 10.00 Uhr. Der nepalesische Helfer der U.M.N., ein schwedisches Ehepaar und ich kamen um 10.30 Uhr. Die Beamten erschienen um 12.30 Uhr. Das Gepäck der Schweden wurde relativ schnell gefunden und bis 15.00 Uhr abgefertigt. Mein Gepäck wurde nicht gefunden. Daher wurde ich in eine große Halle geführt und gebeten, selbst danach zu suchen. Das war leichter gesagt als getan, denn alle Kisten, Kasten und Pakete waren einfach irgendwie in die Halle geworfen. Es gab 4 Regalwände, auf denen aber nur wenige Koffer und Pakete lagen. Trotzdem waren diese Regale nützlich; man konnte sich nämlich an ihnen über die Gepäckberge hangeln. Fast zweistündiges Suchen blieb erfolglos. Besonders tröstlich war in dieser Situation die Bemerkung eines Angestellten, man hätte gerade ein seit 10 Monaten vermißtes Gepäckstück gefunden. Außerhalb der Halle gab es ein Schutzdach, unter dem Kisten gestapelt waren. Glücklicherweise wurden diese Kisten am Spätnachmittag abgefertigt. So fanden sich gegen 16.30 Uhr auf dem Grunde dieses Berges meine Sachen. Nun war aber nirgends Platz, um meine Kisten auszupacken und zu besichtigen. Man fragte: "Haben Sie irgend etwas zu verzollen?" Ordnungsgemäß gab ich an, daß ich ein Radio und einen Cassettenrecorder im Gepäck hätte. "Dann besorgen Sie bitte erst einmal eine Einfuhrgenehmigung," war die Antwort. Man wollte mich halt los sein. Ich blieb aber stur auf meinen Kisten sitzen und teilte mit, daß ich darum bäte, alle meine Sachen zu besichtigen, damit ich gleich wisse, ob weitere Einfuhrgenehmigungen erforderlich wären. Erneute Wartezeit. Schließlich: "Öffnen Sie bitte Ihre Kisten". Das konnte ich aber nicht, da sie mit Bandeisen versehen waren. Erneutes Warten. "Öffnen Sie bitte Ihre Kisten". "Das kann ich mit den bloßen Fingern nicht". Nach langem hin und her ließ man schließlich den Mann mit der Schere Kommen. Die Sachen wurden einfach in den Schmutz geworfen. Für das Radio wurden 1200.00 DM Zoll verlangt. Endlose Diskussionen. Schließlich durfte ich alles kostenlos mitnehmen. Radio und Recorder wurden in den Paß eingetragen, was bedeutet, daß ich beides bei Verlassen des Landes bei mir haben muß. Um 18.30 Uhr war ich wieder zu Hause, kaputt und verdreckt (anders kann man mein Aussehen nicht bezeichnen), aber sehr zufrieden. Bei manchen Leuten dauert es Wochen, bis sie ihr Gepäck durch den Zoll haben.

Am 1.8.82 hat das Language and Orientation Programme (LOP) begonnen mit einer Teeparty, auf der die Studenten miteinander bekannt gemacht wurden. Wir sind 22 Studenten. Um 9.00 Uhr beginnt die Schule mit einer Orientation Stunde. In dieser Zeit erfahren wir Einzelheiten über den Aufbau der U.M.N., über Visa-, Geld- und Postangelegenheiten. Wir hören Referate über die Geschichte des Landes, die Geschichte der Kirche in Nepal, die Stellung der Frau in dieser Gesellschaft, Hinduismus u.a.. Hier bekommen wir auch Einkaufstips und Hinweise zur Ernährung und Gesunderhaltung. Im Laufe des Tages hat jeder ½ Stunde Unterricht im "Sprachlabor", 1 Stunde Unterricht in einer kleinen Gruppe von 4 Leuten, 1 Stunde Unterricht in größerer Gruppe von 5-6 Schülern und 1 Stunde Einzelunterricht. Da zwischen den einzelnen Stunden Pausen liegen, und von 12.00-15.00 Uhr Mittagspause ist, dauert der ganze Schulbetrieb bis 16.00 Uhr. Danach müssen Hausaufgaben gemacht werden. Um 17.45 Uhr gibt's Abendessen. Wir werden in der Schule ziemlich hart herangenommen. Haben schon über 50 Buchstaben und Symbole gelernt, üben Lesen und Schreiben und vor allem natürlich Konversation.

An den Wochenenden gehen wir zur Kirche. Es gibt einige nepalesische Gemeinden, die sich in Wohnhäusern oder auch in einem größeren, mit Wellblech gedeckten Raum treffen. Eine "westliche" Gemeinde kommt in einer Schule zusammen. Man trifft seine "link-family"; das ist eine schon länger in Nepal lebende Familie aus Europa, Amerika oder Australien, der man zugeteilt worden ist und die bereit ist, mit Rat und Tat zu helfen. Mein "link" ist die seit 11 Jahren in Nepal arbeitende Gynäkologin Mary Eldridge aus England. Vielleicht Verabredet man sich auch mit seinem Sathi. Das ist ein nepalesischer Freund, der ebenfalls das Eingewöhnen leichter machen soll. Für mich ist das die Oberschwester des Shanta Bhawan-Hospitals in Kathmandu. Wenn Landsleute bei der U.M.N. arbeiten, so nehmen diese auchvsofort Kontakt mit den "Neuen" auf. Ich habe schon mehrere Deutsche in Kathmandu getroffen, die aber alle außerhalb Kathmandus an nur schwer erreichbaren Orten arbeiten. Man hält aber Kontakt und freut sich auf ein Wiedersehen.

Manchmal wird das Wochenende auch von der Schule verplant. So werden wir z.B. am 27.8.82 nach Dhulikel, einem kleinen Ort am Rande des Kathmandutales fahren und dort 2 Tage verbringen.

"Christentum in Nepal" ist ein mir bisher nicht recht verständliches Kapitel. Einerseits dürfen die U.M.N. und andere christliche Organisationen in diesem Lande arbeiten. Es gibt eine Bibel-Schule und christliche Gemeinden. Christen dürfen nach ihrem Glauben leben. Andererseits ist jede Evangelisation verboten. Da aber Christen und Nichtchristen miteinander sprechen, sich füreinander interessieren, werden eben doch Ansichten und auch Schriften weitergegeben. Das hat besonders in ländlichen Gebieten unter Umständen Anzeigen und Gefängnisstrafen zur Folge. In Amp Pipal ist vor kurzem eine Korde von ca. 15 Männern in das U.M.N.-Hospital eingedrungen und hat Bibeln und Schriftstücke verbrannt. In Tansen sitzt seit 2 Jahren der dortige Pastor im Gefängnis, weil er christliche Schriften verteilt hat.

Das sind Probleme, von denen ich bisher nur von ferne höre. Ich selbst lebe zunächst wohlbehütet im Gästehaus in Kathmandu und pauke Nepali.

Bis demnächst!

Herzliche Grüße!

Silvia

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Kathmandu, den 17.11.82

Ihr Lieben in Deutschland!

Nachdem der Frühnebel sich aufgelöst hat, sitze ich nun in der Sonne und schreibe. Es ist jetzt oft schon so kühl im Haus und im Schatten, daß man sich in der Sonne aufwärmen muß.

Wir haben gerade das Fest Dasai hinter uns, und ich werde heute einmal von den Festen erzählen, die ich hier in Nepal miterlebt habe.

Die Feste folgen dem religiösen Lunarkalender. Die offizielle nepalesische Bikram-Zeitrechnung folgt dem Solar-Kalender. Danach befinden wir uns jetzt im Jahre 2039. Der Jahreswechsel liegt jeweils im April.

An unserem 5. August, wurde das Fest der Kuh gefeiert. Wir hatten nachmittags schulfrei und fuhren mit unseren Lehrern nach Bhaktapur, einer der alten Königsstädte im Kathmandutal. Dort gibt es besonders schöne Umzüge.

Am Gai Jatra (Kuhfest) gedenkt man der im vergangenen Jahr Verstorbenen, deren Seelen bis zu diesem Tag unruhig durch die Welt irren mußten. Nur an einem Tag im Jahr werden die Pforten zu Patal, der Unterwelt, geöffnet. Dort entscheidet Gott Yama Ray an Hand eines Buches, in dem alle Daten und alle guten und bösen Taten eines jeden Menschen registriert sind, über die Reincarnation des einzelnen. Der Weg zur Unterwelt führt durch feurige Ströme und ist sehr gefährlich. Die Familien beten, daß die Seele ihres Verstorbenen von einer heiligen Kuh sicher ans Ziel gebracht wird, indem sie sich am Schwanz der Kuh festhalten darf. Man kann sich vorstellen, daß jeder, der im Sterben den Schwanz einer Kuh in der Hand hat, besonders glücklich dran ist. Das Tor zur Unterwelt, vor dem Tausende von Seelen warten, wird von einer Kuh aufgestoßen. - In den Häusern und Familien der Toten wird eine religiöse Feier abgehalten. Danach wird eine Prozession veranstaltet, zu der eine Kuh, die Nachbildung einer Kuh oder ein als Kuh verkleideter Junge gehören. Außerdem gibt es Musikgruppen und Priester. Man zieht stundenlang durch die Stadt und schließt mit einer Feier zu Hause ab. Diese Umzüge sind von Stadt zu Stadt unterschiedlich und nehmen teilweise karnevalsartigen Charakter an. Das geht zurück auf König Pratab Malla, dessen Frau verzweifelt war über den Verlust ihres Sohnes. Nachdem die Prozession von heiligen Kühen und die Prozessionen aller Familien, die ebenfalls den Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen hatten, sie nicht zu trösten vermocht hatten, versprach der König hohe Belohnung jedem, dem es gelingen würde, auf irgendeine Weise seine Frau zum Lachen zu Bringen. So kam es zu Verkleidungen und Tänzen und zu Darstellungen, in denen auch soziale Ungerechtigkeiten dargestellt wurden. DA die Königin tatsächlich zum Lachen gebracht wurde, wurde der lustige Teil der Prozessionen auch für die Folgenden Jahre eingeführt. Bis zum heutigen Tage darf an diesem Tage ungestraft Kritik geübt werden.

Es folgten im August die Feier von Krishnas Geburtstag und Gokarna, eine Art Vatertag, von denen ich nichts bemerkt habe.

Vom 21.-23. August wurde Teej Brata, ein reines Frauenfest begangen. Dadurch, daß sich die Frauen den vorgeschriebenen, Ritualen und Ceremonien unterziehen, erhoffen sie, eine glückliche und mit Kindern gesegnete Ehe, Glück und langes Leben für ihre Ehemänner und Reinigung des eigenen Körpers und der Seele zu erlangen. – Am ersten Tag wird reichlich gegessen. Der Ehemann muß Früchte, Eier, Süßigkeiten und Fleisch bewilligen. Oft versammeln sich die Frauen in einem Raum, lachen, erzählen und genießen die Köstlichkeiten zusammen. Um Mitternacht beginnt dann das 24-stündige Fasten. Es dürfen keine festen oder flüssigen Speisen zu sich genommen werden, und manch Frauen schlucken angeblich nicht einmal den eigenen Speichel. Man fastet für das Wohlergehen der Ehemänner, und jedes Aufnehmen von Nahrung käme einem Trinken des Blutes des eigenen Gatten gleich. Erinnern soll dieses Fasten an folgende Geschichte. In dem ewigen Kampf der Götter und Dämonen drohte Shiva zu unterliegen, da er aus Trauer um seine gestorbene Frau in tiefe Meditation versunken war. Als Reincarnation seiner Frau Wurde ihm Parvati von ihren Eltern geschickt. Doch er beachtete ihre Schönheit nicht. Erst als sie sich fast zu Tode gefastet hatte, gewann sie seine Liebe. Er nahm sie zur Frau. Daraufhin führte Parvati das Fasten für die Frauen der Erde ein und versprach dafür reichen Kindersegen und ein Zusammenleben mit dem Ehemann bis an ihr Lebensende.

In einigen Häusern versorgen die Frauen ihre Männer an diesem Tage mit besonderer Aufmerksamkeit, in anderen sind sie selbst die Queen, und die Männer müssen rennen. Am Tage ziehen die Frauen in ihren schönsten Kleidern, gewöhnlich ihren roten, goldverzierten Hochzeitssaris zu den Shiva-Tempeln. Nach Pashupathinath, wo ich das Fest beobachtet habe, kommen Scharen, ganze Lastwagen munterer, lachender und singender Frauen und wandern zu den Tempeln am Fluß. Im heiligen Wasser des Bagmati wird ein Bad genommen. Anschließend folgt Puja, die eigentliche Opferhandlung. Die Frauen strömen in den Tempel und ehren Shiva, dargestellt durch eine Haupt-Linga (Phallus Symbol) und 108 kleinere Lingula, indem sie sie mit ihren Opfergaben (Blumen) bewerfen und sich verneigen und Gebete sprechen. Die Frauen bringen Teller mit Blütenblättern, Früchten, Reis, Farbpuder und Dochten für Öllampen zu den Bildern von Shiva und Parvati. Teilweise werden diese Opfer und Gebete für den Ehemann auch vor Bildern im eigenen Hause dargebracht. Eine Öllampe muß die ganze Nacht über brennen. Am frühen Morgen wird Puja beendet, indem dem Gatten von den den Göttern dargebotenen Speisen gegeben wird. Die Frauen haben dann mit der Stirn die bloßen Füße ihrer Männer zu berühren, waschen deren Füße und trinken von dem Waschwasser, Danach erlaubt der Ehemann seiner Frau, das Fasten zu beenden. Es folgen rituelle Reinigungsbäder im Bagmati oder zu Hause, die von allen wissentlich oder unwissentlich begangenen Sünden reinigen, einschließlich der schrecklichen Sünde, während der Menstruation versehentlich oder bewußt einen Mann berührt zu haben.

Eine menstruierende Frau ist unberührbar. Junge Mädchen, die die erste Menstruation haben, werden 14 Tage lang in ein abgelegenes, oft dunkles Zimmer gebracht. Man bringt ihnen das Essen, vermeidet aber jede Berührung. Nachdem das Mädchen sich und seine Kleidung gewaschen hat, wird es wieder in den Familienkreis aufgenommen. Bei der 2. Regel wird diese Prozedur 7 Tage lang wiederholt und dann jeweils 5 Tage lang. Eine Brahmanin meinte im Gespräch, man müsse auch die positiven Seiten sehen. Da die Küche in dieser Zeit nicht betreten werden darf, bedeuten diese Tage für manche geplagte Frau willkommene Urlaubstage. In Kathmandu, wo es schon viele berufstätige Frauen gibt, erwartet man nicht, daß sie während der Regelblutung ein Schild um den Hals tragen, damit sich jeder vor ihnen in acht nehmen kann. Vielmehr vergessen die Frauen, sobald sie aus dem Haus treten, daß sie menstruieren. Sobald sie wieder zu Hause sind, richten sie sich streng nach den Vorschriften. D.h., wenn sie durstig oder hungrig sind, dürfen sie sich nichts in der Küche besorgen. Sie müssen artig warten, bis jemand da ist, der es ihnen gibt. In diesen Tagen, während des Tihar-Festes, werden an einem Tage die Brüder von ihren Schwestern geehrt, d.h. sie bekommen Geschenke und Tika (roter Farbtupfer auf der Stirn als Segenszeichen). Ich wurde von einem Mädchen, das seinem Bruder jahrelang aus verschiedenen Gründen nicht Tika geben konnte gebeten, das Fest für sie durch Menstruationsverschiebung zu retten. Andernfalls wäre sie unrein, und es wäre eine kleine Familientragödie, wenn sie wieder nicht Tika erteilen könnte. So ergeben sich für mich neue Indikationen für Hormonbehandlungen.

Von den Festen Kumari-Jatra und Dasai, dem größten Fest in Nepal werde ich im nächsten Brief berichten. Nun vielleicht noch ein wenig von mir.

Wir, die Sprachschüler, sind nun am Ende eines ersten Teilabschnittes in Nepal angelangt. Diese Zeit war durch die Schule und das Leben im Gästehaus geprägt.

Ein besonderer Teil der Schule war die tägliche Stunde des Orientierungsprogrammes. Da berichtete ein seit über zwanzig Jahren im Lande lebender Jesuitenpater über Buddhismus und Hinduismus, ein anderer Jesuitenpater, der inzwischen die nepalesische Staatsangehörigkeit hat, erklärte die Entwicklung des Erziehungswesens. Die Zeit, in der Erziehung und Ausbildung der Bevölkerung verhindert wurde, da gebildete Leute auch eigene Rechte erkennen, ist noch nicht lange her. Eine Brahmanin teilte uns etwas über Leben und Stellung der Frau in Nepal mit. Gary Sheperd, der mit seiner Familie zwölf Jahre bei den Magars gelebt hat, um deren Sprache zu erforschen, erzählte aus dieser Zeit. Bob Fleming, der seit Jahrzehnten die Vogelwelt Nepals studiert hat, sprach über Klima, Vegetationszonen und Vogelwelt, Spannend war es, von der Zeit zu hören, in der die ersten 12 Autos über die Berge ins Kathmandutal getragen wurden. Kaum zu Glauben, daß das erst 20 Jahre her ist! Von nepalesischen Christen hörten wir über die offiziell nicht existierende Kirche und ihre heutige Situation. Eine Ernährungswissenschaftlerin weihte uns ein wenig in die nepalesische Küche ein und lud uns zu einem Mahl ein. Manches schmeckte sehr gut, bei anderem kann ich nur den Kommentar eines unserer Kinder wiedergeben: "Mammi, ich will kein Gras essen!" Ein Architekt, der in unserem Sprachkurs war, erläuterte das von Deutschland in Bhaktapur durchgeführte Restaurierungsprogramm und führte uns einen ganzen Tag lang durch diese Stadt. Ob es irgendwo in der Welt eine vergleichbare Stadt mit so vielen schönen Schnitzarbeiten gibt? Wohl kaum.

Der Sprachunterricht wurde mit viel Elan und großer Konzentration von Schülern und Lehrern begonnen. Neben der Sprache bekamen wir auch hier ein wenig "background" mit. Jetzt sind aber allgemein gewaltige Ermüdungserscheinungen festzustellen. Der Schwung fehlt. Es wird Zeit, daß die Leute aus den Gästehäusern herauskommen und zusätzlich zur Sprache Arbeit im eigenen Beruf bekommen. Heute, am 16.11.82 ist der letzte Schultag, und das ist gut so. Am 18.11.82 werden wir in Gruppen in verschiedene Dörfer gehen, um dort zu praktizieren, was wir gelernt haben. Einige gehen nach Okhuldunga, einem Ort, der nur durch Flug und langen Fußmarsch zu erreichen ist. Ich selbst gehe in einen kleinen Ort in der Nähe von Pokhara. Dieser Ort ist nach 1-2 Stunden Fußmarsch von einer Busstation aus zu erreichen. Vor Jahren hat ein Mann vom Peace Corps dort gelebt. Heute gibt es keine Ausländer mehr im Dorf. Wichtiger als das Sprachstudium wird die Erfahrung der völlig anderen Denk- und Lebensweise der einheimischen Bevölkerung sein. Bin sehr gespannt. Gestern hatten wir einen Abschiedsabend der Sprachschüler in unserem Gästehaus. Bei Kerzenlicht (obwohl kein Stromausfall war) servierte unser Koch ein. Festessen: Gebackene Kartoffeln, Huhn, Blumenkohl, Erbsen, Möhren, Tomaten und schließlich Kaffee und Walnußpie. Die Hostess hatte für jeden ein Kissen genäht, das mit weicher Baumwolle gefüttert war. Man sieht, wie wir gehegt und gepflegt wurden. Ein Engländer und ich zeigten die ersten Bilder, die wir von zu Hause zurückbekommen hatten. D.h. ich konnte nicht alle Dias zeigen, da ich nicht genügend Rahmen hatte auftreiben können. – Jeder von uns sehnt sich nach einem eigenen Heim und nach der eigentlichen Arbeit, und doch muß man feststellen, daß man in den vergangenen Monaten zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen ist und ein wenig Abschiedsschmerz empfindet. Ich kenne den Ort, an dem ich arbeiten werde schon und weiß, daß ich sehr gute Klima- und Versorgungsbedingungen haben werde. Bei anderen ist das nicht so. Sie kennen ihren Einsatzort nur vom Hören-Sagen. Einige gehen nach Jumla, einem Projekt im Nordwesten. Der Flugverkehr dorthin ist unregelmäßig und manchmal unmöglich. Was das im Krankheitsfall bedeutet, ist klar. Die U.M.N.-Leute werden teilweise von Kathmandu aus mit Nahrungsmitteln versorgt und versuchen ihren Bedarf aus eigenen Gärten zu decken. Die einheimischen Familien müssen vor Winterbeginn ihre Vorräte überprüfen und die Häupter ihrer Lieben zählen. Ein Teil der Familie muß mit einigem Vieh über Winter nach Süden abwandern, da nicht für alle Nahrung da ist. Diejenigen von uns, die ins Terai kommen, müssen mit großer Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit während der Monsunzeit und Moskito-, Ameisen- und Termitenplage rechnen. In diesem Jahr wurden in den Häusern bis zu 46°C gemessen. Man kann verstehen, daß diese Geschichten bei den Betroffenen eine erwartungsvolle Spannung hervorrufen. Wie wird's wirklich sein? Wird man seine Aufgabe erfüllen können? Morgen geht's also auf in die Berge. Hoffentlich wird es eine schöne Zeit! Am 9.12. kommen wir nach Kathmandu zurück. Nach einer Tagung, über Gesundheitswesen werde ich. am 14.12.82 nach Tansen fahren. Dort wird für ½ Jahr mein Arbeitsplatz sein. Anschließend: geht's ans neue Hospital in Patan. An diesem Haus werde ich ½ Jahr mit einer erfahrenen Kollegin zusammenarbeiten. Sie wird Ende nächsten Jahres in den Ruhestand treten, und ich soll dann die Abteilung übernehmen. Manch Dinge erscheinen mir augenblicklich noch wie ein hoher Berg, den es zu erklimmen gilt.

Wünsche allen Lieben in Deutschland ein recht frohes Weihnachtsfest und sende meine herzlichsten Grüße.

Silvia

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Tansen, April 1983

Ihr Lieben Daheim!

In diesem Brief werde ich nun doch nicht mein Versprechen, über Dasai- und Tiharfest zu berichten, halten. Es gibt zu viel anderes zu erzählen.

Am 18.11.82 fuhr unsere Sprachschülergruppe mit dem Bus nach Sisuwa, einem Ort bei Pokhara. Wir hatten eine glatte Fahrt und benötigten für diese Strecke von ca. 200 km nur 7 Stunden. Wegen fehlerhafter Organisation war es zunächst schwierig, Träger für unser Gepäck zu bekommen. Schließlich klappte es aber doch, und wir konnten nach Lamaswara, "unserem Dorf", marschieren. Aller Ärger war vergessen, als wir ankamen. Die strohgedeckten Lehmhäuser des Ortes lagen weit auseinander an Berghängen, unter uns ein See. Die Reisernte war noch nicht abgeschlossen. So lagen auf den Höfen riesige Reishaufen als goldgelbe Farbflecken in dieser Landschaft. Wie oft habe ich in den folgenden Wochen einfach nur dagesessen und zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten über die Berge und ins dal geblickt und die Stille genossen! Ich war bei einer Frau mit 4 Töchtern untergebracht. Die Mädchen waren 3 Monate, 2 Jahre, 12 Jahre und 14 Jahre alt. Der Herr des Hauses arbeitet in Calcutta und kommt nur ein- oder zweimal im Jahr für einige Wochen nach Hause. Fast zur Familie gehörten 2 Nach-barinnen, eine junge mit ca. 7 Jahre altem Sohn und eine ältere, die taub war. Beiden Nachbarinnen war gemeinsam, daß sie nicht die einzige Ehefrau waren und von ihren Männern kaum beachtet wurden. In diesem Weiberverein fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Das waren wirklich "kernige Typen", nicht so wie die Damen in Kathmandu, die vor allem hübsch und ihren Männern gehorsam zu sein haben. Diese Frauen mußten schwer arbeiten, fast die gesamten Feld- und Erntearbeiten erledigen und für die Vorratshaltung sorgen. Dazu kam natürlich die Aufzucht der Kinder. Ich hatte den Eindruck, daß sie ihren Wert kannten und stolz auf ihre Leistung waren.

Unser Haus hatte 2 Räume, einen schmalen, überdachten Vorplatz und einen kleinen Speicher für die Lagerung der Vorräte unter dem Dach« Beide Räume hatten eine Tür nach außen und waren untereinander durch eine Türöffnung verbunden, die meinetwegen nun durch Pappkarton und einen Sack verschlossen war. Mein Zimmer war ca. 2,20 x 2,50 m groß und ca. 1,80 m hoch. Es wurde fast vollständig von einem Doppelbettgestell ausgefüllt, auf dessen einer Hälfte ich schlafen durfte. Die andere Hälfte war Tabu. Der zweite Raum war ca. 5,00 x 2,50 m groß und wurde durch eine halbhohe Mauer in Wohn-Kochbereich einerseits und Schlafbereich andererseits unterteilt. Im Wohn-Kochbereich war eine kleine Feuerstelle in den Boden eingelassen. Auf einem Dreifuß fand die ganze Kocherei statt. An der Wand lehnten einige Teller aus Aluminium und Messing. Außerdem gab es Kochlöffel aus Metall, Gläser, Töpfe und verschiedene Wasserbehälter. Von der Decke hingen geflochtener Rahmen, in denen Töpfe aufbewahrt wurden (wie bei uns Blumenschalen). Das Mobiliar bestand aus einem Holzregal, auf dem Blechdosen standen, und ca. 2 cm dicken Holzbrettchen, auf denen man saß. Der Lehmboden ist nämlich kühl und etwas feucht. Daß ich nicht auf dem Boden sitzen konnte, wurde sofort akzeptiert, und ich war gerührt, als am Tag nach meiner Ankunft ein Bambushocker als Tisch vor meinem Campingstuhl stand. Im Schlafbereich gab es ein Bett und eine große Truhe. Ein Teil der Familie, meist die Mutter mit den beiden kleinen Kindern, schlief in diesem Bett. Der Rest der Familie und Freunde rollten eine Strohmatte im Küchenbereich aus oder auf der "Veranda" und schlief dort, Nepalesen können in jeder Stellung und an jedem Ort schlafen. Der Tag der Hausfrau begann um 4-5:00 Uhr morgens. Sie machte Feuer und setzte Teewasser auf. Danach mistete sie den Unterstand der 3 Büffelkühe aus und fütterte und molk sie. Die älteste Tochter machte sich auf den Weg zur Quelle und schleppte Wasser für Mensch und Vieh den Berg herauf. Um 6:00 gab es ein Glas Tee mit Milch und Zucker. Dann mußten Milch und Reis gekocht, Gemüse geputzt und geschnitten und Fett und Mohi (Art Buttermilch) gemacht werden. Zwischendurch wurde noch das Baby gestillt, geschaukelt, liebkost. Die Schulmädchen kümmerten sich um die jüngeren Geschwister, machten Schularbeiten (manchmal schon vor 500 Uhr morgens oder halfen beim Gemüse und anderen Arbeiten. Um 9.00 Uhr gab's die erste Reismalzeit. Dhal-Soße, aus bestimmten Gewürzen und Getreiden, Bhat-Reis + Thorkhri-Gemüse, Die beiden großen Töchter machten sich danach auf den ca. einstündigen Schulweg. Für die Hausfrau hieß es nun Abwaschen. Das Geschirr wurde mit Sand und Stroh direkt neben dem Misthaufen geschrubbt und anschließend mit Wasser abgespült. Da man mit Wasser sparsam umgehen mußte, hatten die Frauen eine bestimmte Technik entwickelt. Das Wasser wurde in den Teller gegossen, umgespült, mit der Hand aufgefangen, über die Rückseite des Tellers gegossen und schließlich in einem Gefäß gesammelt und den Büffeln vorgesetzt. Die Nähe des Scheuer-Vorganges zum Misthaufen störte mich etwas. Es wundert mich nicht, daß so viele Menschen hier Würmer haben. – Die Betten wurden zum Lüften und Trocknen in die Sonne gehängt. Pampers für Babys gibt's nicht und Waschen ist wirklich sehr mühsam. Kleine Kinder haben in der Regel nur Hemdchen, Jäckchen oder Kleidchen an. Hosen oder Windeln sind nicht vorhanden. Die Kinder werden abgewaschen, zum Trocknen in die Sonne gelegt und hin und wieder mit S[...]l eingerieben (von Kopf bis Fuß einschließlich Haaren und Ohren). Unsere Rita war nie wund. Die Reinigung des Hauses erfolgte durch Fegen – natürlich nicht mit Roßhaar oder Syntheticbesen, sondern mit aus Gräsern gebundenen Besen – und Einreiben des Bodens mit einer Mischung aus einer bestimmten Erde und Kuhdung.

Während ich in Lamaswara war, wurde Reis gedroschen. An einem Tag wurden auf unserem Hof 3 Kühe, die man in der Nachbarschaft gemietet hatte, von morgens 6.00 Uhr bis abends 6.00 Uhr um einen Pfahl über den Reis getrieben. Männer bündelten die Reishalme, schlugen sie nochmals kräftig aus und stapelten das Stroh als Wintervorrat für die Büffel. Die Frauen fegten die Reiskörner zusammen und füllten sie in Körbe. An den folgenden Tagen wurde der Reis immer wieder auf Strohmatten in der Sonne ausgebreitet und abends vor dem Einfüllen in Körbe von der Spreu gereinigt. Das geschah, indem man den auf runden, geflochtenen Tablets (nanglos) ausgebreiteten Reis in die Luft schleuderte und eben nur den Reis, nicht aber die Spreu, wieder auffing. Schlechte Reiskörner wurden herausgesammelt.

Als Hirse geerntet worden war, trampelten die Frauen stundelang darauf herum, bis die Körner herausfielen. Die Reinigung und die Vorbereitung zur Lagerung waren die gleiche wie beim Reis.

Für mich war es erstaunlich, was für Lasten die Leute zu tragen in der Lage waren. Unsere 1,50 m große Saraswati schleppte glatt 60 kg den Berg hinauf. Die ganze Ernte wurde von entfernten, in Terrassen an Berghängen liegenden Feldern auf dem Rücken herangetragen. Während meines Dorfaufenthaltes konnte ich zusehen, wie gebuttert wird, wie Reismehl und daraus in Fett gebackene Roti hergestellt werden. Interessant war auch das Backen von Tschepatis (Brotteigpfannkuchen) Auf einem heißen Blech in Bananenblättern ohne Fett. Für mich westeuropäischen Großstadtmenschen war es verblüffend und bewundernswert, zu sehen, wie Menschen ohne unsere Zivilisationstechnik zurechtkommen. Wenn man Land und sogar Büffel hat, und außerdem gesund ist, läßt es sich bei harter Arbeit ganz gut leben. Was aber, wenn man krank wird und Bargeld für Arzt und Medizin benötigt? Was, wenn man kein Land besitzt, zu krank ist für schwere Arbeit, keine große Familie hat? Wie sieht das Leben einer Witwe ohne Land und ohne Familienunterstützung aus? Vielerorts sind die Vorräte 2-3 Monate vor der nächsten Ernte aufgebraucht, und die Preise auf den Märkten schnellen in die Höhe. Es scheint mir auch kein Idealzustand, daß Familienväter in Indien oder in den Armeen fremder Länder Geld verdienen müssen. Trotz der großartigen Erlebnisse war ich froh, als ich das Dorf verlassen konnte. Meiner Beine wegen hatte ich nicht mitarbeiten oder Wanderungen unternehmen können. Die Sprachkenntnisse reichten für eine Unterhaltung nicht annähernd aus. 2x Reis am Tag, zwischendurch Poppcorn und ein Glas Tee oder Buttermilch (gemischt mit ungekochtem Wasser, d.h. mit Amöben, Wurmeiern, Hepatitis- und anderen Krankheitserregern), an besonderen Tagen mal ein Tschepati oder ein Roti sind auch nicht das, was ich mir bis an mein Lebensende wünsche. Besonders unangenehm waren mir die langen Nächte. Beim Licht einer winzigen Ölfunzel war Lesen kaum möglich. Die Schulmädchen taten es zwar, mir schmerzten aber schon nach kurzer Zeit die Augen und ich gab auf und wartete auf den Morgen.

Wie habe ich nach 3 Wochen das weißbezogene Hotelbett in Pokhara genossen! – und die heiße Dusche! – und die Spiegeleier mit Brot! – und Neskaffee! – und Pfannkuchen mit Marmelade!

Am 10.12.82 letzter Schultag in Kathmandu. 12.12. und 13.12.82 Tagung der im Gesundheitswesen Tätigen. 12.12.82 während einer Teepause Mitteilung, daß meine für den 14.12.82 geplante Abreise nach Tansen zu einer 6-monatigen Tätigkeit am dortigen Krankenhaus verschoben werden müsse, da ich im Januar eine Kollegin am Shanta Bhawan Hospital in Kathmandu vertreten solle. Großer Ärger bei mir, da mein Gepäck bereits nach Tansen geschickt wurde. – Weiter Leben im Gästehaus.

Beginn der Einarbeitung am Shanta Bhawan Hospital am 19.12.82. Beginn der Vertretung am 1.1.83. Aus dieser Zeit einige kurze Anmerkungen;

Sprachschwierigkeiten in Nepali und medizinischem Englisch. Operationsberichte, die ich in Deutschland in wenigen Minuten auf Band diktierte, mußten hier per Hand in englisch geschrieben werden. Privatsprechstunde in englisch: EIN GREUEL. Dazu Unkenntnis der hier üblichen Medikamente und Schwierigkeiten bei der Rezeptur. Fremde Menschen, komplizierte Namen. Schwerkranke auf den Stationen, andere Mentalität des Pflegepersonals. Unleserliche Handschriften in Fremdsprache. Rätselraten über Krankengeschichten bei Konsiliaruntersuchungen. Ungewohnte Verhältnisse im OP. Unzureichendes Instrumentarium. Schwierigkeiten bei der Blutbeschaffung.

Meine erste OP war die Hysterektomie eines über den Nabel reichenden Uterus myomytosus (Gebärmuttermuskelgeschwulst). Hämatokrit der Patientin 20% (Hgb wird nicht bestimmt). Da das von den Angehörigen der Patientin angeforderte Blut nur zögernd anrollte, mußte die Patientin auch mit meinem Blut auftransfundiert werden, bevor ich sie am folgenden Tag operieren konnte.

In meinem ersten Dienst hatte ich mich um eine Mutter von 4 Kindern mit septischem Schock nach Abtreibung zu befassen. Sie bekam eine diffuse Bauchfellentzündung, wurde operiert, als sie kaum noch atmete und wurde 2 Tage in einem 16-Bettenzimmer beatmet mit einem Klapperkasten, der aussah wie ein alter Grammophonkasten und ein entsetzliches Getöse veranstaltete. Um das Bett der Patientin waren die Angehörigen all der anderen Patienten versammelt. An Infusionen standen physiologische Kochsalzlösung, Dextrose 5% und Haemaccel (500 ml kosten den Wochenlohn eines Landarbeiters) zur Verfügung. Auch Antibiotica waren vorhanden. Trotzdem können die Mediziner sich vorstellen, was die Behandlung einer solchen Patientin ohne Möglichkeit der Elektrolytbestimmung und ohne Sitzwache, die den Trachealtubus pflegt und die Frau intensiv überwacht, bedeutet, – Die Frau hat übrigens überlebt. – Pikant wird die ganze Sache noch dadurch, daß Abtreibungen auch in dieser Gesellschaft und Religion etwas Negatives sind. Um die Sache etwas weniger sträflich zu machen, werden – so sagt man – die benutzten Stöckchen vor dem Eingriff in Kuhmist gewälzt. An und von der Kuh ist eben alles heilig. Mir treiben solch Geschichten Angstschweiß auf die Stirn und Schauer den Rücken herunter. Alles in allem waren die 2 Wochen im Shanta Bhawan Hospital eine harte Zeit, da ich mich noch nicht eingelebt hatte und nicht genügend eingearbeitet war. Außerdem war es entsetzlich kalt. Habe nur im Anorak und in Wollsocken Visite gemacht, meine Patienten unter den dünnen Decken bedauert und "zu Hause" (im Hause der Kollegin) sogar im Bett gefroren, da meine warme Kleidung und mein Heizofen in Tansen waren.

Mitte Januar nahm ich an einem Seminar über Streßerscheinungen und Depressionen bei Missionaren und Arbeitern in fremden Kulturkreisen teil. Es wurde geleitet von einer Psychiaterin, die seit 25 Jahren in Asien lebt und arbeitet. Widerwillig muß ich zugeben, daß die Beschäftigung mit solchen Problemen wichtig ist.

Am 21 1.1983 machte ich mich auf den Weg nach Tansen.

Neue Lebens- und Arbeitsbedingungen. Neue Leute. Da wenig Wohnraum vorhanden, wieder Leben im Gästehaus. Es ist schön hier, trotzdem! Von einem so interessanten Arbeitsplatz in landschaftlich so herrlicher Lage kann man nur träumen.

Das Einleben in diesen kleinen Kreis von Missionaren war nicht leicht. Auch zum Sprachstudium bin ich kaum noch gekommen. Einerseits gab es zu viel Arbeit im Krankenhaus, andererseits mußte ich zu viele andere Dinge lesen und lernen. Es ist frustrierend, wenn man täglich Verständigungsschwierigkeiten hat. Meine Kollegen in Deutschland erinnere ich daran, wie gerne man Krankenblätter von Ausländern ohne deutsche Sprachkenntnisse anlegt, besonders, wenn man unter Zeitdruck steht. Hinzu kommen Schwierigkeiten durch eine völlig andere Auffassung von Krankheit. Hier hustet beispielsweise jeder und spuckt in der Gegend herum, unendlich viele Leute leiden unter offenen Tuberkulosen. Husten wird aber kaum je als Krankheitssymptom angesehen. – Eine Frau hatte eine Facialisparese. Ich versuchte herauszubekommen, was passiert war. Alles was ich erfuhr, war, daß vor Jahren ein böser Wind gekommen sei und diese Erscheinung verursacht habe. Für besonders wichtig hielt man das Ganze nicht. – Ein Mann klagt über Bauchschmerzen und zeigt zunächst auf den Oberbauch. Drückt man auf eine andere Stelle des Bauches, so tut es dort genauso weh. Schließlich schmerzen der ganze Bauch, die Beine, die Füße, die Arme und der Kopf. Es ist unmöglich festzustellen, ob der Schmerz an einer Stelle größer ist als an einer anderen. – Für die Behandlung von Frauen benötigt man immer die Einwilligung von männlichen Familienmitgliedern. Kommt eine ältere Frau wegen eines Gebärmuttervorfalls und einer Blutung zu mir. Ich versuche zu erklären, daß man auf jeden Fall eine Ausschabung zum Ausschluß eines Carcinoms machen müsse, daß ich aber auch ihren Gebärmuttervorfall beseitigen könne. Der hinzugezogene Sohn will nicht begreifen, daß es für diesen Fall keine Medizin gibt. Er erklärt kategorisch: "Eine Operation kommt nicht in Frage." Meinen Einwand, er möge doch die Beschwerden der Mutter und die Carcinomgefahr bedenken, beantwortet er mit dem Argument: "Ich bin der Sohn, ich entscheide. Mutter geht mit nach Hause. Geld für eine Operation wird nicht ausgegeben." – Wenn man erlebt, wie Männer Blutspenden für ihre Frauen mit einem Schulterzucken verweigern – man wird schon eine neue Frau bekommen, schlimmer wär's, wenn dem Sohn oder dem Büffel etwas zustieße – möchte man aus der Haut fahren. Eine Frau, die keine Söhne gebirt, ist nichts wert. Habe mehrfach Frauen in der Sprechstunde gehabt, die als Kinder verheiratet wurden. Sie kamen nun im Alter von 16-18 Jahren, weil keine Kinder kamen. Leider mußte ich manchmal Anlagestörungen feststellen, die die Geburt von Kindern unmöglich machen. Über das Schicksal dieser Frauen mag ich gar nicht nachdenken. Mir wird immer klarer, daß man zuerst den Frauen Lesen und Schreiben beibringen muß, um sie aus ihrer Abhängigkeit zu befreien.

Damit genug vom Krankenhaus.

Seit dem 1. April habe ich Urlaub. In der ersten Woche habe ich Post erledigt, gelesen, mich ausgeruht, dann bin ich für eine Woche nach Pokhara gefahren. Habe von dort aus meine Familie in Lameswara besucht und mit einigen Fotos, die ich im November aufgenommen hatte, viel Freude ausgelöst. An einem anderen Tag bin ich mit Bus und Jeep in ein höher gelegenes Bergtal gefahren und von dort zu einem Dorf aufgestiegen, von dem man einen wunderbaren Blick auf das Annapurnamassiv und den Machhapuchhare hatte. Leider regnete es in der Nacht, und es gab keinen spektakulären Sonnenaufgang. Die Berge des Himalaja waren nicht mehr zu sehen. In Pokhara besuchte ich deutsche Freunde und schwelgte in deutscher Unterhaltung. Nach Beendigung dieses Briefes werde ich morgen um 5.15 Uhr nach Kathmandu aufbrechen. Hoffe auf eine gute Fahrt und eine Ankunft bis 18.00 Uhr. Das ist nicht selbstverständlich. Möchte mir in Kathmandu eine Wohnung suchen, denn Mitte Juni werde ich mal wieder umziehen. Die Kollegin vom neuen Hospital in Patan wird am 1. Juli nach England zurückgehen, und ich werde dann ihre Stelle übernehmen. Sehe dieser Aufgabe mit einigen Bedenken und Befürchtungen entgegen. Wird schon werden!?! Wie man sieht, kann ich über Langeweile nicht klagen.

Herzliche Grüße

Silvia

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November 1984

Ihr Lieben in Deutschland!

Seit dem letzten Rundbrief haben sich meine Lebensumstände gewaltig verändert. Kam Ende Mai 1983 nach Kathmandu. Meine erste Tat war der Kauf eines Mopeds (Honda [...]50). Dadurch habe ich neue Bewegungsfreiheit und Kontaktmöglichkeiten. Kann mal Freunde besuchen oder schnell zwischen Morgenvisite im Krankenhaus und Beginn der Poliklinik notwendige Einkäufe oder andere Dinge erledigen. Mein Lebensraum ist also viel größer geworden. Wegen der häufigen Rufbereitschaftsdienste im Krankenhaus mußte ich eine Wohnung mit Telefon möglichst nah am Arbeitsplatz finden. Das war nicht ganz einfach. Wegen des großen Bedarfs an Wohnungen schossen die Mietpreise in Krankenhausnähe in die Höhe. Ein Telefon zu bekommen schien fast unmöglich. Schließlich schaffte ich es, eine entsprechende Unterkunft zu bekommen. Da der Preis nicht viel höher war als für kleine Wohnungen, habe ich mich für ein großes Haus entschieden. Viel zu groß für mich allein! Darüber freuen sich deutsche Freunde und Bekannte, die in abgelegenen Projekten arbeiten und so eine Unterkunft in Kathmandu haben. Habe bisher selten für längere Zeit allein gewohnt.

Die dritte Veränderung sind die guten Einkaufsmöglichkeiten. Alles, was zum täglichen Leben für einen Europäer erforderlich erscheint, ist erhältlich, sogar Butter, Brot, Käse, Wurst. Davon können die Freunde außerhalb des Kathmandu-Tals nur träumen.

Die vierte und wichtigste Veränderung ist mein Arbeitsplatz. Ich ging zunächst sehr skeptisch an meine neue Aufgabe heran. Hatte Angst vor einem großen, unpersönlichen Krankenhaus und vor einer Atmosphäre und Patienten, die an Arbeitsumstände in Deutschland erinnerten; angefangen mit fordernden Privat-Patienten und deren Einstellung zu Krankheit und Behandlung über bürokratischen Verwaltungsapparat bis hin zu irgendwelchen verlangten, wenig effektvollen Statistiken. Inzwischen kann ich aber sagen, daß ich sehr zufrieden und froh bin an meinem jetzigen Arbeitsplatz. Ich bin nun einmal Gynäkologin und Geburtshelferin und daher erleichtert, daß ich im Gegensatz zu meinem Einsatz in Tansen ganz auf meinem Gebiet arbeiten kann. Habe eine wunderschöne Station mit 28 "geburtshilflichen" und ca. 12-15 "gynäkologischen" Betten. Die zweite Zahl schwankt, da ich oft mit der Abteilung für innere Medizin teilen muß. Außerdem darf ich nicht so viele Patienten aufnehmen, wie ich manchmal möchte, da nicht genügend Pflegepersonal vorhanden ist und ich selbst eben auch irgendwann überlastet bin. Im Juni 1983 fing eine junge Tibeterin auf unserer Abteilung an, die zuvor nur ½ Jahr auf dem Gebiet der Frauenheilkunde gearbeitet hatte. Sie ist so tüchtig und hat eine so hervorragende Einstellung zur Arbeit, zur Verantwortung und zu Patienten, daß sie heute selbständig Nachtdienste macht, fast alle Schwierigkeiten im Kreißsaal meistert und Kaiserschnitte durchführt. Diese Kollegin gehört zu den erfreulichen Begegnungen, die ich hier haben durfte. Bis zu meinem Vertragsende im Juli 1985 wird sie so weit sein, daß sie meiner Vertretung eine große Stütze sein wird. Bei meiner Rückkehr nach Nepal muß diese Dr. Kundu dann ins Ausland gehen, um ihren Facharzt zu machen. Das ist derzeit in Nepal nicht möglich. - Außer Dr. Kundu gibt es noch einen jungen Assistenzarzt auf der Abteilung. Diese Stelle wird alle 6 Monate neu besetzt. Die Ärzte wechseln dann auf eine andere Abteilung. – Im April dieses Jahres haben die ersten 12 Medizinstudenten in Nepal ihr Examen abgelegt. Vor ihrer vollen Anerkennung als Arzt benötigen sie eine praktische Ausbildung. Von diesen "Interns" habe ich jeweils einen für 2 Monate auf der Abteilung. Ihr seht, ein wichtiger Teil der Aufgaben besteht in der Ausbildung von Personal. Zusätzlich zur praktischen Arbeit müssen Unterrichtsstunden gehalten werden. Wenn man bedenkt, daß es in Nepal je 35.000 Personen nur einen Arzt gibt, sieht man, wie nötig das ist.

Wir hatten in meinem ersten Arbeitsjahr 1.349 Entbindungen. Rechne im zweiten Jahr mit 1.500 bis 1.800 Entbindungen. Die Patientenzahlen in der Schwangerenvorsorge steigen. Wir müssen an dafür vorgesehenen Vormittagen ca. 120 Patienten durchschleusen. Die Schwangerenvorsorge und die Untersuchungen 4-6 Wochen nach der Entbindung liegen mir sehr am Herzen, da hier Präventivmedizin betrieben wird und die Möglichkeit zu Gesundheitsberatung und -erziehung einschließlich Familienplanung gegeben ist. Leider können wir diese Chance aus Zeit- und Personalmangel noch nicht recht nutzen. Die Tage, an denen wir gynäkologische Sprechstunde haben, sind besonders schwierig für mich wegen meiner mangelhaften Sprachkenntnisse und der Unfähigkeit der Patienten, ihre Beschwerden so zu schildern, daß ich die Hauptbeschwerden herausfinden und eine Diagnose stellen kann. Alles dauert zu lange. Es scheint den Menschen schwerzufallen, zu verstehen, daß zwischen den Schmerzen im Handgelenk und den Bauchschmerzen vielleicht kein Zusammenhang besteht und daß ich als Gynäkologin gern wüßte, welches der Hauptkummer ist. – Die Arbeit hier ist von medizinischen Gesichtspunkten her hochinteressant. Viele Krankheitsbilder habe ich nie zuvor gesehen: Anämien (Blutarmut) mit 2,3 g% Hämoglobin (14 g% normal) in der Schwangerschaft, bedingt durch Mangel- und Unterernährung; tagelang zurückgehaltene Nachgeburten; Tetanusfälle nach Abtreibungen; Riesentumore (der größte von mir operierte Eierstocktumor wog 30 kg, die Patientin selbst 40 kg); komplizierte Entbindungen nach tagelang versuchten Hausentbindungen; Amöbeninfektionen. Da die Menschen sehr spät zur Behandlung kommen, sieht man voll ausgebildete klassische Krankheitsbilder.

Die Arbeitsatmosphäre ist hervorragend. Es macht Spaß, mit dem freundlichen und geduldigen, teilweise gut ausgebildeten Personal zusammenzuarbeiten. Die Schwestern in der geburtshilflichen Abteilung sind gleichzeitig Hebammen und nehmen normale Entbindungen vor. Eigentliche Krankenpflege wird nur teilweise übernommen. Die Patienten werden in der Regel von Angehörigen versorgt, die auch bei ihren Kranken auf einem Stuhl, einem Bettvorleger oder einfachen Liege schlafen. Nepalis können anscheinend in jeder Lage und Situation schlafen. Wenn ich nachts durch Hospital gehe und Leute im Treppenhaus auf dem Boden, auf Holzbänken oder am Krankenbett auf Stühlen fest schlafen sehe, kann ich mich nur wundern. Man kann Essen von der Krankenhausküche bestellen. – Die meisten Leute werden aber von der Familie versorgt. Dies wohl auch aus religiösen Gründen, da das Kastenwesen nur auf dem Papier abgeschafft ist.

Damit heute genug von Medizin und Krankenhaus.

Leider hat mein Beruf mir nur wenig Zeit zu außerdienstlichen Unternehmungen und Begegnungen gelassen. So war es schön, daß mein Bruder im Oktober/November 84 zu Besuch kam. Ich nahm in dieser Zeit Urlaub, und wir sahen uns gemeinsam ein wenig um.

Ende Oktober wurde das Tihar-Fest gefeiert. Mir scheint dies das fröhlichste Fest zu sein. Gefällt mir als außenstehendem besser als Dasai mit all seinen Tieropfern. Tihar ist ein Fest zu Ehren von Laxmi, der Göttin des Glücks und des Wohlstandes, und von Yama, dem Gott des Todes. Das Fest beginnt am 13. Tage des abnehmenden Kartik-(Oktober/November-)Mondes und dauert 5 Tage lang. Am 1. Tag wird die Krähe geehrt. Man stellt Blätterteller mit Reis für sie hin. Am 2. Tag werden die Hunde geehrt. Sogar der schmutzigste Straßenhund bekommt eine Girlande von Tagetes um den Hals und eine gute Mahlzeit. Beide Tiere werden als Boten Yamas gewürdigt. Am 3. Tage sind alle Häuser geputzt und geschmückt, mit Tagetesblütengirlanden, und mit Malereien auf den Außenwänden. Abends stehen in den Fenstern und an den Hauseingängen viele kleine Ölschalen mit brennenden Dochten. Man will Laxmi einladen, damit sie durch ihren Besuch und Segen Reichtum und Wohlstand mehrt oder bringt. Die Stadt gleicht einem Lichtermeer. Die Menschen sind fröhlich und ausgelassen. Es wird gewürfelt und leider oft viel Geld verspielt und zu viel Alkohol getrunken. Die Straßen sind voll mit Ständen, an denen Süßigkeiten, Gebäck, Nüsse, Kerzen und Lampions verkauft werden. Ich bin in diesem Jahr mit meinem Bruder durch das erleuchtete Patan gebummelt und werde so manches Bild nicht vergessen. In dieser Nacht ziehen Gruppen von Sängern von Haus zu Haus und erbitten Gaben. Spottlieder gibt es, wenn die Türen und Fenster verschlossen bleiben. Am 4. Tag beginnt das neue Jahr der Newar. An diesem Tag findet die Verehrung des eigenen Körpers, die "mha puja" (Puja = Opferhandlung, Ehrung) statt. Der 5. Tag ist der Tag der "Bhai-(Bruder-)Puja". Dann ehren Schwestern ihre Brüder. Man denkt an Jamuna, ein Mächen, das Gott Yama bat, den Bruder erst ins Totenreich zu holen, wenn sie ihren Gottesdienst beendet habe. Sie zog diese Puja so in die Länge, daß Yama schließlich langes Leben für den Bruder versprach. In den Häusern finden Zeremonien statt, in denen Schwestern ihre Brüder mit köstlichen Speisen verwöhnen. Sie selbst erhalten Geschenke von ihren Brüdern. Nach dem Laxmi-Fest flogen mein Bruder und ich mit einer Twin-Otter (2-motorige Propellermaschine mit 18 Sitzen) nach Rumjatar, um von dort nach Okhaldunga zu laufen. Wir wollten eine deutsche Krankenschwester besuchen und uns über das dortige UMN-Projekt mit kleinem Krankenhaus zu informieren. Ich hatte dieses Ziel ausgesucht, weil es zu den relativ einfach zu erreichenden Plätzen gehört. So einfach ist die Sache aber gar nicht. Die Wege sind nicht wie unsere Stadtparkwege, und Nepals Berge sind recht stell. Erst im Dunkeln mit Hilfe von Bruder und Freundin und in Begleitung der Trägerin unseres Gepäcks kamen wir im Schein des Lichts unserer Taschenlampe nach 7-stündigem Fußweg völlig erledigt (ich) an. Glücklicherweise hatten wir für den 4 Tage später geplanten Flug Rumjatar-Terai keine Tickets bekommen, und ich konnte mich erst einmal erholen. Weniger fußkranke Leute brauchen übrigens nur 3 Stunden für den Weg. Über die von Kathmandu sehr verschiedenen Lebensbedingungen brauche ich nicht zu schreiben. Sie sind ähnlich, wie ich sie im Brief über Dorfleben beschrieben habe. Elektrizität ist abends nur für 4 Stunden vorhanden, reicht aber nur für Licht. Sollte im Hospital eine Röntgenaufnahme nötig werden, müssen alle anderen Verbrauchsstellen abgeschaltet werden. Das Krankenhaus ist sehr notdürftig ausgestattet. Es sind 25 Betten vorhanden. Einfache Holzbetten mit dünner Strohmatte. Es gibt Türen von den Zimmern ins Freie. Dort sind kleine Feuerstellen, auf denen Angehörige für ihre Kranken kochen. Zusammen mit einer Chirurgin, die besuchsweise dort war, habe ich eine Frau mit großem Eierstockstumor und eine andere mit gutartiger Gebärmuttergeschwulst operiert. Da kann man schon das Fürchten lernen. Ein junger, in Narkosen relativ unerfahrener Kollege machte Äther-Luft-Maskennarkose. Kostbarkeiten wie Sauerstoff gibt's in dieser Gegend natürlich nicht.

Unsere Rückreise war auch bemerkenswert. Flugtickets mußten in Rumjatar besorgt werden und waren schwer zu bekommen. Der Verkauf begann 7 Tage vor Abflug. Es wurde jeweils nur 1 Karte pro Person ausgegeben. Da vom Okhaldunga-Projekt 5 Tickets benötigt wurden, schickten wir am Tag vor Ausgabebeginn 5 Träger nach Rumjatar. Sie schliefen vor dem Office, waren so die ersten am Schalter und ergatterten die Flugscheine.

In Okhaldunga trafen wir den Arzt, der vor über 20 Jahren das Krankenhaus gegründet hatte und nun besuchsweise da war. Er hatte bereits eine Bypass-Operation am Herzen hinter sich und erlitt jetzt in Okhaldunga einen Herzanfall, der es ihm unmöglich machte, Berge zu steigen. Es war bewegend, wie dieser Mann von 4 Trägern aus "seinem" Projekt heraus nach Rumjatar getragen wurde. Noch heute sagen die Leute, wenn man sie nach dem Wohin fragt, nicht: "Ich gehe ins Hospital", sondern: "Ich gehe zu Dick." Das ist der Name des Arztes.

Insgesamt sind wir alle gut an der Flugpiste angekommen. Für mich war der Rückweg einfacher, da es meist bergab ging.

Mein Bruder und ich flogen nach Biratnagar nahe der indischen Grenze und fuhren von dort per Bus durch den flachen, tropischen Landstreifen nach Lahan. Dort lebt ein befreundeter deutscher Augenarzt mit seiner Familie. Er arbeitet für die Christoffel-Blindenmission, und ich war sehr beeindruckt zu sehen, wie durch Hunderte von Katarakt-Operationen blinden Menschen das Sehrvermögen wiedergegeben wird. Nach unserer zweiwöchigen Reise sind wir Mir bleibt nun der Rest des Urlaubes für Erledigung von Post, die dann direkt nach Deutschland mitgenommen werden kann und pünktlich und sicher zu Weihnachten ankommt.

Herzliche Weihnachtsgrüße allen Verwandten, Freunden und Bekannten!

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Dezember 1986

Ihr Lieben daheim!

Nun bin ich schon seit einem halben Jahr wieder in Nepal. Die Adventszeit ist da, und Weihnachten naht. Höchste Zeit zum Briefeschreiben, damit genügend Zeit bleibt, bei jedem von Euch ein wenig in Gedanken zu verweilen.

Wenn ich an meine Zeit in Deutschland zurückdenke, so war mir die Begegnung mit der Familie und mit allen Freunden und Bekannten am wichtigsten. Aber auch die Aufarbeitung dessen, was ich in den 3 Jahren zuvor in Nepal erlebt hatte, die Überprüfung des eigenen Standpunktes und der Motivation waren nötig vor dem Entschluß, wieder auszureisen. Inzwischen weiß ich, daß dieser Entschluß richtig war. Am Ostermontag (31.3.86). machte ich mich wieder auf die Reise. Mein Bruder brachte mich zum Flugplatz nach Hamburg. Die Wartezeit in Frankfurt wurde mir von Freunden verkürzt, die extra aus dem Schwarzwald angereist kamen. Hier noch einmal herzlichen Dank. Nach komplikationslosem Flug landete ich in Addis Abeba. Mein Ziel dort waren das Arztehepaar Hamlin und dessen "Fistula Hospital". Die Reise hat sich gelohnt!

Für Nichtmediziner hier eine Erklärung, worum es bei Vesico-Vaginal-Fisteln geht: Das Problem taucht in allen Ländern auf, in denen die Frauen ihre Kinder zu Hause zur Welt bringen, fernab von Krankenhäusern mit Möglichkeiten für Kaiserschnitte oder andere geburtshilfliche Operationen. Kann ein Kind wegen Mißverhältnisses zwischen kindlichem Kopf und mütterlichem Becken nicht geboren werden, so wird der vorangehende Kopf stunden- und tagelang mit jeder Wehe gegen das knöcherne mütterliche Becken gepreßt und dabei die Harnblase zwischen Kind und Becken eingeklemmt. Durch den enormen Druck kommt es zu Blutzirkulationsstörungen im Gewebe und zum Absterben von Gewebe. In der Regel sterben die Kinder unter der Geburtsbelastung und können dann wegen Tonusverlust und Erweichung nach einigen Tagen tot geboren werden. Kurz darauf stellen die Frauen fest, daß ständig unwillkürlich Urin abgeht. Es hat sich eine Blasen-Scheiden-Fistel gebildet. Zunächst hofft man, daß der Zustand sich bessert. Das tut er aber nicht. Da man nur wenig Kleidung hat, oft das Wasser knapp ist, das Haus, in dem auf engem Raum viele Menschen zusammen leben, verschmutzt und der Geruch unangenehm ist, werden die Frauen nach einer Weile nicht mehr im Hause geduldet. Sie werden nach draußen versetzt, nicht mehr zu den Mahlzeiten zugelassen, vom Ehemann verlassen. Häufig handelt es sich um sehr junge, ansonsten gesunde Frauen, die so Kind, Ehemann und soziale Stellung verlieren. – Die Operation der Fisteln ist nicht einfach. Ich bin mehrfach wegen solcher "Fälle" in Panikstimmung geraten und war froh, als ich die Adresse des Ehepaares Hamlin, Experten auf diesem Gebiet, bekam. Dieses Arztehepaar, Er 70, Sie 60 Jahre alt, ging vor über 25 Jahren nach Äthiopien. Sie wurden in ihrem allgemeinen Krankenhaus auf diese armen Patientinnen, die auch hier nicht gern gesehen waren, aufmerksam und kümmerten sich besonders um sie. Als die ersten Operationen erfolgreich verlaufen waren, tauchten mehr und mehr Patientinnen mit diesem Problem auf. Die Frauen kamen nach manchmal wochen- und monatelangen Fußmärschen in Addis an, ohne Geld, schmutzig und "abgerissen". Wegen der Blockierung des Operationssaales, der mit den Chirurgen geteilt werden mußte, und der langen Belegung (3-4 Wochen) von Krankenbetten gab es bald innerbetriebliche Schwierigkeiten. Schließlich schlossen die Hamlins ein Abkommen mit dem Gesundheitsministerium: Sie sollten weiterhin ihr Gehalt bekommen und erhielten Erlaubnis, ihr eigenes Krankenhaus zu bauen, mußten allerdings die Geldmittel dafür selber im Ausland auftreiben. – Sie haben tatsächlich Geldgeber gefunden und bauten das "Fistula-Hospital". Es handelt sich um einen flachen Bau, der einen riesigen Raum mit 50 Betten und einige sehr einfache Nebenräume – Operationsraum, Untersuchungszimmer, Räume zum Säubern und Sterilisieren von Wäsche und Instrumenten – enthält. Es gibt heute 4 ausgebildete Krankenschwestern und 15 Pflegerinnen, die selber Fisteloperationen hinter sich haben und nicht geheilt wurden oder aus anderen Gründen nicht nach Hause zurückkehren konnten. Sie wohnen auf dem Krankenhausgelände, bekommen ihre Mahlzeiten und ein kleines Gehalt. Die Pflegerinnen kreisen Tag und Nacht durch den 50-Bettenraum, um stündlich die Durchgängigkeit der Blasen- und Harnleiterkatheter zu prüfen und all die Uringefäße zu leeren, eine wesentliche Voraussetzung für den Operationserfolg.

Zuerst haben die Hamlins 32 Patienten im Jahr operiert, inzwischen sind es 500-700 Patienten pro Jahr. Fast unglaublich, nicht wahr?!- Da es sich fast ausschließlich um sehr arme Frauen handelt, die buchstäblich kaum mehr als das nackte Leben besitzen, muß die Behandlung kostenlos sein. Das Auftreiben der Geldmittel, die Korrespondenz, die Buchführung, das Einkaufen des Krankenhausbedarfs, einschließlich der Nahrungsmittel, alles wird von den Hamlins bewältigt. Dazu kommt die Weitergabe ihrer Operationstechnik an andere Ärzte. Alle Gynäkologen in Addis Abeba müssen während ihrer Facharztausbildung 2-3 Monate am Fistula Hospital arbeiten. Außerdem kommen Besucher aus aller Welt, wie ich. In den 2 ½ Wochen, in denen ich zu Gast war, habe ich zunächst natürlich zugeschaut und assistiert. Dann durfte ich 5 Frauen (einfachere Fälle) selber operieren. In späteren Briefen wurde mir mitgeteilt, daß die Frauen geheilt entlassen wurden. Das hat Auftrieb und Mut gegeben ebenso wie das rührende Bemühen der Hamlins um mich während meines Aufenthaltes dort. Es war deutlich zu spüren, daß diese Leute durch Weitergabe ihres Wissens und Unterstützung anderer Kollegen am liebsten allen Frauen der Welt helfen würden. – Ich bin sehr dankbar für dieses Erlebnis! –

In Nepal angekommen habe ich 4 Wochen lang versucht, meine Sprachkenntnisse aufzubessern. Dann fand ich eine Wohnung ganz nah am Hospital, und die Arbeit begann. Habe inzwischen auch einige Vesico-Vaginalfisteln erfolgreich operiert und bekomme die ersten Patientenüberweisungen von anderen Kollegen. Bin gespannt auf die weitere Entwicklung. Da der größte Teil Nepals verkehrstechnisch unerschlossen und nur zu Fuß zu erreichen ist, muß es meiner Ansicht nach viele Frauen mit Fisteln geben. – Die Hauptarbeit liegt jedoch auf dem Gebiet der Geburtshilfe. Die Zahl der Schwangerenvorsorgeuntersuchungen und der Entbindungen steigen weiter. Wir haben in den ersten 4 ½ Monaten des hiesigen Rechnungsjahres bereits 866 Entbindungen gehabt. Ich rechne mit ca. 2500 Entbindungen für das laufende Jahr. Damit ist die Grenze dessen, was wir personalmäßig und von der Bettenkapazität her leisten können, erreicht. An unseren beiden Tagen für Schwangerenvorsorge haben wir bis zu 200 Patientinnen. Wir haben 4 Arztstellen, von denen 3 zur Zeit besetzt sind. Blutdruckmessungen, Wiegen, Routineuntersuchungen werden von Hilfspersonal vorgenommen. Normale Entbindungen werden von Schwestern durchgeführt. Da auch ausgebildete Schwestern knapp sind, soll ich jetzt ANM's (Auxilliary Nurse Midwives), die eine einjährige medizinische Ausbildung haben, heranbilden, daß sie die Schwangerenvorsorgeuntersuchungen weitgehend selbständig durchführen und rechtzeitig an den Arzt überweisen. Wir wollen dann an 5 und nicht wie bisher an 2 Wochentagen Schwangerenvorsorgeuntersuchungen vornehmen. Als dringlich steht auch die Einführung eines Lehrprogramms für Patienten an. Immer mehr Frauen kommen zur Entbindung ins Krankenhaus. In der Hektik des Betriebes bleibt keine Zeit zur Aufklärung über Hygiene, Kinderernährung, Impfprogramme, Wochenbettkomplikationen, Familienplanung. Wir brauchen ein überprüfbares Buchungs- und Unterrichtssystem für Patienten. Nach dem Motto: Nächste Untersuchung erst, wenn Teilnahme an bestimmten Unterrichtsstunden nachgewiesen werden kann. Das erfordert einiges an organisatorischem Aufwand. Außerdem müssen die Stunden vorbereitet, audio-visuelles Lehrmaterial beschafft und möglichst viele Leute (Schwestern, ANM's, Ärzte, health-educator) trainiert und motiviert werden. – Woher die Zeit nehmen, wenn der Kreißsaal voll ist, Visiten gemacht, Operationen durchgeführt und die gynäkologische Ambulanz besetzt werden müssen?? – Na, ich habe während dieses Vertrages ja noch 2 ½ Jahre Zeit, die Sache zum Laufen zu bringen. – Mein Programm ist klar:

Hauptinteresse: Vesico-Vaginalfisteln

Hauptaufgaben neben der normalen Klinikarbeit:

  1. Training von ANM's
  2. Aufklärungsprogramm für Patienten

Eine weitere Aufgabe, nämlich Ausbildung von jungen Ärzten kann nur sehr am Rande laufen.

Die Arbeit macht Spaß. Die Herausforderung durch die vielen Aufgaben und Probleme ist faszinierend, die eigene Unfähigkeit und Unzulänglichkeit allerdings oft deprimierend. Da ist es gut, wenn es hin und wieder gelingt, dem Krankenhausbetrieb zu entfliehen.

Vor einigen Tagen war ich bei Amerikanern zu einem Pestessen anläßlich des amerikanischen "Thanksgiving Day" eingeladen. Die private Begegnung mit Nichtmedizinern und Kollegen aus Indien, Nepal, Amerika und England war eine interessante Abwechslung, und das Menü mit süßen Kartoffeln, Maispudding, Kürbispie mit Eis und andere Spezialitäten habe ich sehr genossen.

Heute ist 1. Advent. Ich habe den Gottesdienst der Internationalen Protestantischen Congregation besucht. An jedem Adventsonntagabend findet ein internationales Advent- und Weihnachtsliedersingen in einem Privathaus oder einer Botschaft statt. Das ist schon seit Jahren Brauch in Kathmandu, und ich versuche teilzunehmen.

Meine große Freude in diesem Jahr ist ein Adventskranz mit richtigen Tannen und dicken roten Kerzen, den ich auf einem Bazar erstehen konnte. Woher die Zweige wohl kommen?? Ich habe noch nie eine Tanne in Nepal gesehen. Sie wird wohl außerhalb des Krankenhausgeländes stehen.

Wünsche Euch allen daheim eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit!

Eure Silvia

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Dezember 1987

Ihr Lieben daheim!

Weihnachten naht, wieder mal höchste Zeit für einen Rundbrief.

Wenn ich in meinem Schreiben vom Dezember 1986 lese "Hauptinteresse: Vesico-Vaginalfisteln, Hauptaufgaben neben der normalen Kliniktätigkeit: 1. Training von ANM's, 2. Aufklärungsprogramm für Patienten" muß ich rückblickend feststellen, daß ich die "Hauptaufgaben" schon im Januar 87 fallen lassen habe. Es gab so viel Arbeit auf den Stationen und in der Poliklinik, daß keine Zeit für irgendwelche Trainings- und Aufklärungsprogramme blieb. Für diese Arbeit fand sich eine Amerikanerin. Sie hat mit 3 ANM's (Auxilliary-Nurse-Midwives) gearbeitet. Diese ANM's machen jetzt die gesamte Schwangerenvorsorge und erteilen regelmäßig Unterricht über Ernährung, Hygiene, den Geburtsvorgang, Familienplanung und Impfpläne. Sie sehen täglich ca. 60 Patientinnen und überweisen nur Schwangere mit irgendwelchen Unregelmäßigkeiten oder Komplikationen an uns Ärzte. Nachmittags machen sie unter ärztlicher Aufsicht Abschluß-Untersuchungen, die 6 Wochen nach der Entbindung fällig sind, und besprechen Methoden der Familienplanung. Zusätzlich kümmern sie sich um Information und Erziehung von Patienten auf der Wochenstation. Durch die Abgabe der Schwangerenvorsorge an die ANM's bin ich stark entlastet worden.

Eine weitere Erleichterung hat sich für mich in der Geburtshilfe ergeben. Meine Kolleginnen sind auf diesem Gebiet recht selbständig geworden, was bei der Erfahrung durch hohe Geburtenzahlen nicht verwundert. Wir hatten im vergangenen hiesigen Rechnungsjahr 2471 Entbindungen. Auf dem Gebiet der Gynäkologie hat sich im Operationssaal, auf den Stationen und in der Poliklinik eine Routine entwickelt. Auch dadurch habe ich mehr Zeit (und Nerven) und kann die Kolleginnen zunehmend an gynäkologische Operationen heranlassen. Es wird allerdings noch eine Weile dauern, bis man sie allein lassen kann.

Mein Hauptinteresse gilt weiterhin den Vesico-Vaginalfisteln. Ich darf daran erinnern, daß diese Störung bei Hausentbindungen In entlegenen Gegenden ohne Möglichkeit zu medizinischer Hilfe durch ein Mißverhältnis Kind - mütterliches Becken entsteht. Die Geburt geht nicht voran. Der stunden- und tagelange Druck des führenden kindlichen Teiles verursacht einen Defekt in der Blasen- und manchmal auch der Darmwand. Dadurch werden die sonst gesunden jungen Frauen urin- und stuhlinkontinent und oft wegen der Geruchsbelästigung und Unsauberkeit zu Ausgestoßenen. Sie verlieren nicht nur ihr Kind, sondern auch ihre Familie und ihr Zuhause. Eine lohnende und befriedigende Aufgabe, sich gerade um diese Patienten zu kümmern. Das dankbare Strahlen einer geheilten Fistelpatientin ist jedesmal ein Erlebnis besonderer Art. Ebenso das Töpfchen Fett oder die Äpfel, die als Anerkennung gebracht werden. Was für eine Freude und Genugtuung als vor kurzem eine 55-jährige Patientin aus dem Kathmandutal, die 30 Jahre lang keine medizinische Hilfe erfahren hatte, geheilt nach Hause gehen konnte! Wie groß die Enttäuschung vor 2 Monaten bei meinem ersten Mißerfolg (von 18 Fällen des vergangenen Jahres)! Die 30-jährige Frau hatte ihre Fistel seit einer Totgeburt vor 12 Jahren, war also seit 12 Jahren urininkontinent. Sie war ohne Familienangehörige in die große Stadt gekommen. Mit viel Hoffnung, Kampfgeist und Geduld ertrug sie Operation und postoperative Phase. Nach 2 Wochen war klar, daß der Eingriff mißglückt war und ich zusätzlich noch eine Darm-Scheidenfistel gesetzt hatte. Eine erneute Operation kann erst nach 2-3 Monaten erfolgen. Eine harte Wartezeit für alle Beteiligten. Ich konnte es nicht über's Herz bringen, die Frau ungeheilt,. ohne weiteren Versuch nach Hause zu schicken. Daher war ich sehr dankbar, daß eine Möglichkeit gefunden wurde, sie auf dem Krankenhausgelände unterzubringen. In Kürze erfolgt der nächste Eingriff. Wir alle, die Patientin, die Kollegen, das Pflegepersonal und ich hoffen sehr, daß die Operation diesmal erfolgreich sein wird. Leider ist die Zahl der Fistelpatientinnen, die zur Operation kommen noch klein. Dabei bin ich überzeugt, daß es sehr viele Frauen mit diesem Leiden in Nepal gibt, und bin sicher, daß die Zahl bei dem in Nepal nur sehr langsamen Fortschritt in der medizinischen Versorgung weiter steigt. Warum kommen nicht alle?

Zum einen liegt das wohl an der Unwegsamkeit und Unerschlossenheit dieses Landes. Nachrichten verbreiten sich langsam. Man weiß nicht, daß eine Operation helfen könnte. Der Weg nach Kathmandu ist weit und beschwerlich. Zum anderen spielt sicher Angst vor Unkosten, die man nicht tragen könnte, eine Rolle. Im Januar diesen Jahres habe ich 2 Patientinnen aus entfernten Dörfern (ca. 3 Wochen Fußweg) erfolgreich behandelt. Beide konnten mir die Namen von mehreren Frauen aus dem gleichen Ort mit gleichem Schicksal nennen. Keine von diesen anderen Frauen ist bisher hier erschienen. Meine Vermutung: Die beiden operierten Frauen hatten eine Familie, die für sie sorgte, und waren finanziell so gut gestellt, daß sie die ca. 400,- DM für Operation und 4 Wochen Krankenhausaufenthalt zahlen konnten. Wenn sie aber diese für hiesige Verhältnisse riesige Summe zu Hause erwähnt haben, ist armen, unversorgten Frauen sicher der Mut zum Weg nach Kathmandu vergangen. Aus diesem Grunde hat die Krankenhausleitung die völlig kostenlose Behandlung, Unterbringung und Ernährung von Fistelpatientinnen verfügt. Die Unkosten werden von unserem Charity-Fund getragen.

Von so viel Unterstützung und Ermutigung wie ich sie von allen Seiten erfahren darf, kann man eigentlich nur träumen.

Doch nun weg vorn Krankenhaus. Was es sonst noch zu berichten gibt: Eine befreundete deutsche Familie ist nach Kathmandu gezogen. Wie schön, wenn man zwischendurch mal telefonieren, deutsch klöhnen oder auf deutsch Dampf ablassen kann! Die Lebensqualität steigt erheblich! – Mehrfach habe ich in diesem Jahr Besuch aus Deutschland gehabt und es genossen, mich mit Freunden in deutscher Sprache auszutauschen. Entfernungen und Zeitabstände scheinen kleiner zu werden, und das tut manchmal sehr gut. –

Kathmandu ändert sich mit großer Geschwindigkeit. Der zunehmende Verkehr wird von den Straßen kaum noch bewältigt. Von daher sind die hohen Zölle auf Kraftfahrzeuge wohl zu befürworten. Es wird viel gebaut. Immer mehr Geschäfte mit ordentlichen Regalen, Glasvitrinen, Glasfenstern sind zu sehen. Einen Supermarkt gibt's, immer mehr Buchgeschäfte und neuerdings sogar Blumenläden. Es scheint eine großer werdende Verbrauchergruppe für teure, eingeführte Waren (Radios, Elektrogeräte, modische Bekleidung) zu geben. Alle Preise, auch die für Grundnahrungsmittel, sind gestiegen. Der Kurs der Rupie ist in meiner Zeit von 1,- DM = 5,- RS auf 1,- DM = 13,- RS gefallen. Das Einkommen der Leute, die ohnehin kaum das Nötigste zum Leben hatten, ist aber nicht entsprechend gestiegen. Der Tourismus nimmt zu. Die verblüffendste Veränderung konnte ich vor einem Monat erleben anläßlich der SAARC-Conference (South Asian Association Regional Cooperation), einem Gipfeltreffen der Staaten Nepal, Bhutan, Bangladesh, Indien, Pakistan, Sri Lanka, Malediven. Unglaublich, was innerhalb weniger Wochen möglich wurde: Alle größeren Tempelanlagen gereinigt und gestrichen, die Hausfassaden an den Hauptstraßen und Bordsteinkanten gestrichen, überlaufende Abwassergräben kanalisiert, Beseitigung des Mülls von den Hauptstraßen, Aufstellung von Abfallbehältern, Anordnung diese auch zu benutzen. Die Straßenhändler wurden von größeren Plätzen vertrieben und in Seitenstraßen verbannt. Die Fassade der Stadt wurde gereinigt. Für einen Ausländer wie mich und für all die Touristen ist es angenehm, durch weniger stinkende Straßen zugehen. Es besteht nur die Gefahr, den größeren Teil der Stadt, die Hinterhöfe und Seitenstraßen, zu übersehen und zu vergessen. Wurden dort etwa Toiletten installiert?

Es ist Advent, auch in Nepal. – Die Gedanken gehen öfter nach Hause als zu anderen Zeiten. Man vermißt das Zusammensein mit der Familie und mit Freunden. Ich vermisse die Weihnachtsmusik, nicht aber den Kaufstreß und den Trubel der angeblichen Weihnachtsvorbereitungen. – Wünsche Euch, daß ihr nicht vom Weihnachtsrummel überrannt werdet, sondern Zeit habt zur Besinnung auf die "große Freude, die uns widerfahren ist". (Luk 2,10)

In diesem Sinne

Frohe Weihnachten!

Eure Silvia

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Kathmandu, 15. November 1988

Ihr Lieben daheim!

Während ich diesen Brief schreibe, findet man in Nepal zum Alltagsleben zurück. Die Hauptfeste Dasain und Tihar sind vorüber. Über Tihar habe ich früher berichtet. Vielleicht interessiert es Euch, etwas über Dasain zu erfahren. Zu Dasain wird die Göttin Durga = Taleju = Kali = göttliche Mutter des Universums als Siegerin über das Böse, über Dämonen, Teufel, böse Mächte, die die Menschheit quälten, als Beschützerin Nepals und seiner Regenten gefeiert. Über diesen Sieg gibt es in verschiedenen Volksgruppen unterschiedliche Legenden. In einigen Gruppen wird erzählt, daß König Rama, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, nach unzähligen Kämpfen Ravana, den König einer Dämonenhorde, besiegte, nachdem er die göttliche Kraft der Durga beschworen hatte. Andere sagen, daß König Ramas göttliche Gattin Sita, nachdem sie von Ravana entführt worden war, die Gestalt der schrecklichen Zerstörerin Kali annahm und den tausendköpfigen König der Dämonen, vernichtete. Anderswo feiert man den Triumph des Guten über das Böse als Sieg der vielarmigen Göttin Durga über den Dämon Mahisura, der als fürchterlicher Wasserbüffel die Erde terrorisierte.

Vor dem Fest herrscht ein Trubel wie bei uns in der Vorweihnachtszeit. Man kauft, versendet Glückwünsche. Es gibt mehr Obst und Gemüse in der Stadt als sonst. Kleidung wird angeschafft für die Familie und für Angestellte. Es gibt 13. Monatsgehälter. Ganze Ziegenherden werden in die Stadt getrieben und dort verkauft. Wie man in Deutschland Leute mit wohlverpacktem Weihnachtsbraten und Tannenbaum nach Hause streben sieht, so beobachtet man hier, wie die Menschen mit einer Ziege am Halsband oder einer lebenden Ente unter dem Arm nach Hause gehen. In den Tagen vor dem Fest meckert es plötzlich überall, weil Ziegen in den Höfen angebunden sind.

Dasain ist ein Familienfest. Man reist in seinen Heimatort. Busse und Flugzeuge sind ausgebucht. Sonderfahrten werden eingerichtet. Das Fest dauert 10 Tage.

Am ersten Tag – Ghatastapana – wird in einem Gebetszimmer oder einer heiligen Ecke der Häuser der Kalash-Wasserkrug, der die Anwesenheit der Göttin Durga repräsentiert, aufgestellt. Rundherum werden in Sand Gerstenkörner oder anderes Getreide gesät. In einem von Astrologen und Priestern bestimmten Moment wird Durga gebeten, das Gefäß mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Danach ist das Gefäß die Gottheit selbst und wird als solche verehrt. Reiche Brahmanen stellen einen Priester an, bei dem Gefäß zu bleiben. Die Sprößlinge der Getreidekörner sind am 10. Tage so lange, daß sie als Schmuck im Haar getragen werden können. In den kommenden Nächten finden Tempelbesuche, rituelle Waschungen, an einigen Orten Maskentänze, statt.

Am 7. Tage – Fulpati – wird der königliche Kalash von Gorkha, dem ursprünglichen Heimatort der herrschenden Dynastie, nach Kathmandu gebracht. Es gibt eine Militärparade, Böllerschüsse, eine Prozession zum Palast. Die 8. Nacht heißt Kali rati, die schwarze Nacht. Unzählige Tiere werden in dieser Nacht der Göttin geopfert. Menschenopfer sind wohl abgeschafft. Man spaltet die Kehlen der Tiere und laßt das Blut über das Götzenbild spritzen. Danach wird der Kopf völlig abgetrennt, der Schwanz ebenfalls, und der Schwanz in das Maul gesteckt als Zeichen völliger Unterwerfung. Der Tierkopf sieht den Götzen an. Der Tierkörper wird als Gabe der Göttin an die Spender zurückgegeben und dient als Festschmaus.

Das Schlachten halt den 8. Tag über an. Manche ehren auch den Gott der Räder – Bhairav – und den Gott des Handwerks – Vishwa Sharma. Dann wird das Blut der Tiere nicht auf das Durga-Bild, sondern an Auto- und Flugzeugräder gespritzt. Alle Flugzeuge der Royal Nepal Airlines werden an diesem Tage so behandelt.

Der 10. Tag – Vijaya Dasoni – ist der Tag des Sieges, der Tag, nach dem das Fest benannt wurde. An diesem Tag besucht man alle älteren Verwandten und läßt sich Tika geben. Das ist ein rotes Zeichen auf der Stirn aus rotem Puder oder Reis mit rotem Puder gemischt. Da die Familien groß sind, ist man so den ganzen Tag mit Tika-Geben und -Nehmen und Schmausen beschäftigt, denn in jedem Hause wird man zum Essen eingeladen. Wenn man die Runde an einem Tage nicht schafft, geht die Prozedur an den folgenden Tagen weiter bis zur nächsten Vollmondnacht. Dann ist das Fest beendet, der Kalash wird entfernt. Vergleichen kann man Dasain in Nepal mit Weihnachten in Europa wegen des Rummels. Ob die Gedankenlosigkeit, mit der gefeiert wird, genau so groß ist wie im christlichen Abendland, wage ich nicht zu beurteilen. Religion spielt im Alltag eine große Rolle. Man lebt mit der Religion.

Ich flog in diesem Jahr Ende Oktober zum 80. Geburtstag meiner Tante für 5 Tage nach Hause. Gleich nach dem Geburtstag ging es zurück nach Asien. In Thailand verbrachte ich mit meinem Bruder 2 erholsame Urlaubswochen am Meer. Mein Bruder kam dann mit nach Nepal, wo wir z.Z. meinen restlichen Jahresurlaub genießen.

Danach fangen für mich die letzten Arbeitsmonate wahrend meines zweiten Vertrages mit an. Wenn ich auf meine Tätigkeit am Patan Hospital zurückblicke, freue ich mich besonders über die Portschritte meiner Kolleginnen Dr. Kundu und Dr. Geetha. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die beiden selbständig als Gynäkologinnen arbeiten können. In der Geburtshilfe sind sie jetzt schon so weit. Eine dritte Kollegin, Dr. Radha, ist jetzt so weit wie Dr. Kundu am Ende meines ersten Vertrages. Ich kann sie allein lassen bei Notfällen im Kreißsaal und bei Kaiserschnitten. Wegen der steigenden Patientenzahlen soll die Abteilung eine weitere Planstelle erhalten. Die Schwangerenvorsorge und das Familienplanungsprogramm müssen vergrößert und verbessert werden. Eine besondere Herausforderung stellten für mich weiterhin die Patientinnen mit Vesico-Vaginalfisteln dar. Eine lohnende Aufgabe. Das Glück einer geheilten Patientin wirkt sehr ansteckend. Ich würde gern auf diesem Gebiet weiterarbeiten.

Nach -Regeln gibt es nur 2 Dreijahresverträge. Mein Zweitvertrag ist im März 1989 zu Ende. Dann komme ich erst mal nach Deutschland zurück. Ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen.

Eure Silvia

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URL: http://www.gunde.de/genealogie/texte/nepal-rundbriefe.php